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Die zu Unrecht vergessene Bizet-Oper »Ivan IV«

Figurinen zur Figur der Maria von Hinrich Horstkotte© Christina Iberl
Figurinen zur Figur der Maria von Hinrich Horstkotte

Zwischen 1862 und 1864 schrieb Georges Bizet – später weltberühmt geworden durch seine Oper „Carmen“ (UA: 1875) – ein Werk über Zar Iwan, den Schrecklichen, und seine zweite Ehefrau Marija Temrjukowna. Iwan, in dieser Grand opéra Ivan genannt, lässt Marija (bei Bizet: Marie) aus ihrer Heimat rauben, verliebt sich in sie, doch ihre Familie sinnt auf Rache und auch im Kreml lauert Verrat. Die von hoher kompositorischer Qualität zeugende Oper wurde unverständlicherweise nie gespielt und ging verloren. Selbst nach der Wiederentdeckung 1929 und mehreren konzertanten Aufführungen wartete sie vergebens auf die szenische Uraufführung. Intendant Jens Neundorff von Enzberg plante diesen Coup für die Eröffnung seiner Intendanz 2021/22. Coronabedingt musste dies auf Eis gelegt werden – bis jetzt. Leider kam ihm die Chamber Opera St. Petersburg mit der Uraufführung im vergangenen Dezember zuvor, am Staatstheater Meiningen folgt nun die deutsche szenische Erstaufführung. Ab dem 24. Februar transferiert Hinrich Horstkotte, der bereits mit „Amadigi di Gaula“ begeisterte, Bizets Oper „Ivan IV“ auf die Bühne. Mercedes Arcuri (Staatstheater Hannover) und Monika Reinhard spielen alternierend die charakterstarke Marie, und Tomasz Wija präsentiert als russischer Zar darstellerische Vielseitigkeit.

Musiktheaterdramaturgin Julia Terwald (JT) sprach mit Regisseur, Kostüm- und Bühnenbildner Hinrich Horstkotte (HH) über Georges Bizets Oper:


Die russische Historie - eine Fundgrube
JT: „Ivan IV“ ist eine ziemlich unbekannte Grand opéra. Als sie ins Gespräch mit Herrn Neundorff kam, kanntest du sie aber schon, richtig?

HH: Ich kannte sie von der Schallplatte und hatte mich schon mit dem Thema beschäftigt, da ich vor längerer Zeit angefangen habe, mich mit russischer Geschichte auseinanderzusetzen. Gerade über Iwan, den Schrecklichen, gibt es alleine bei Rimski-Korsakow drei Opern. „Die Zarenbraut“ ist eine davon. Die russische Geschichte ist eine Fundgrube, die sehr viel bietet, und zwar durch die ganze Zeit.

JT: In der „Zarenbraut“ entsprechen die Themen Vergiftung der Zarin und Verrat Elementen der historischen Realität. In Bizets „Ivan IV“ geht es jedoch vor allem um die Liebe zwischen Marie und Ivan.

HH: Nachdem sie gefangen genommen worden ist, erkennt Marie Ivan als den tollen Fremden, den sie zum ersten Mal beim Wasserschöpfen gesehen hat. Auch er findet sie faszinierend oder attraktiv. Der Punkt, weswegen er sich aber in sie verliebt, das sagt er auch, ist ihre Stärke. Sie tritt ihm entgegen, hat keine Angst, bezichtigt ihn sogar der Blasphemie. Die Figur der Marie hat etwas Jeanne d’Arc-artiges oder etwas von einem Freiheitsengel. Diese Kraft speist sich aus der Verbundenheit zu ihrem Vaterland. Dass sie der Heimat entrissen wurden, ist für die Tscherkessinnen die größte Katastrophe, nur Marie kann dies in eine Stärke ummünzen, die sogar die Figur des Ivan zu einem besseren Menschen macht. Historisch betrachtet, war das offenbar eher die erste Frau des Zaren, Anastasia.

JT: Historisches wird also so miteinander verwoben, dass es nicht mehr ganz realistisch ist?

HH: Ja, genau! Man muss bei sowas natürlich immer bedenken, wie das Verhältnis von dem Urheberland des Stücks zu dem Land, in dem es spielt, war. Tatsächlich war es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so gespalten wie zuvor, als Napoleon gegen Moskau Krieg führte. Ich finde ebenso interessant, dass explizit die Tscherkess:innen als Moslems bezeichnet werden – was historisch nicht ganz korrekt ist – und der Islam vorbehaltlos als die ehrenhaftere Gesinnung dargestellt wird, also auch der Umstand, dass Marie sich weigert, ihren Schleier abzunehmen.

Bizets Oper fand zunächst kein Gehör
JT:
Spannend, da die Oper in Frankreich, einem christlichen Land, geschrieben wurde. Es wäre eigentlich naheliegender, das Christentum positiv darzustellen. Kann der Religionskonflikt ein Grund sein, warum die Oper damals nicht auf offene Ohren stieß?

HH: Das kann man so nicht sagen. Exotismus war ja beliebt – wie in „Lakmé“ von Léo Delibes oder „Perlenfischer“ von Bizet selbst. Das waren beides Stücke, die auch dezidiert auf das Schaubedürfnis der Leute ausgerichtet waren; theoretisch wie bei „Ivan“.

JT: Womöglich war es eine Geldsache. Bizets Briefen ist zu entnehmen, dass das Théâtre Lyrique, der Auftraggeber, pleite war. Doch etwas später konnte dort Bizets nächste Oper „La jolie fille de Perth“ herausgebracht werden.

HH: Da könnte man sich fragen, wieso diese Oper besser funktionierte. Es lag wahrscheinlich daran, dass bei Stücken wie „Mireille“ von Charles Gounod oder „La jolie fille de Perth“ (Bizet) das Opéra-comique-Element noch stärker war.

JT: Oder Ivan war eine zu „schreckliche“ Figur und die Zensur mischte sich ein?

HH: Wahrscheinlich nicht. Zudem war der Zar trotz seines Beinamens, „der Schreckliche“, DER russische Herrscher, der Russland zum ersten Mal zum Westen hin geöffnet hat. Dabei war der Kern seiner Macht die Religion. Über sie funktionierte die Ausdehnung seines Machtbereichs. Das stieß vor allem bei der einfachen Bevölkerung auf positive Resonanz. Dieser Gedanke von Demut und Volksnähe, eigentlich ein Prinzip der Unterwerfung, spielt bedauerlicherweise in der gesamten Geschichte des russischen Volkes eine große Rolle. Ich will mich jetzt nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber diese Tragödie hat bis heute nicht aufgehört. Dass wir den „Ivan“ jetzt machen, ist insofern von der Geschichte eingeholt.


Erstaufführung statt Uraufführung
JT
: Wäre Corona nicht gewesen, hätten wir die 5-aktige Fassung von Bizets „Ivan IV“ mit der Intendanzeröffnung Jens Neundorff von Enzbergs (Sept. 2021) zur szenischen Uraufführung gebracht. Tangiert es dich, dass die Chamer Opera St.
Petersburg uns nun zuvor kam?

HH: Nein, für meine Arbeit hat das keine Bedeutung. Es ist vielmehr so, dass ich in den letzten Jahren eine Neigung für Stücke entwickelt habe, die noch nicht so beackert sind. Es ist eine schöne Aufgabe, sich mit der Frage zu konfrontieren, warum ein Stück in Vergessenheit geraten ist und zu überprüfen, geht das noch? Bei Bizets „Ivan“ bin ich davon überzeugt, weil es erstens hervorragende Musik ist und zweitens eine gute Geschichte erzählt. Vielleicht sind wir heute auch ein bisschen offener in der Darstellung so einer Figur wie dem Ivan, die wirklich zwei Gesichter hat.

JT: Wie setzt du dies auf die Bühne um?

HH: Das Gute ist, dass die Musik das übernimmt: So charakterisiert Bizet die Figur. Das Orchester hat dabei eine ganz entscheidende Rolle. Jede Figur hat immer wieder längere oder kürzere Orchesterpassagen an Stellen, an denen man eigentlich Sprache bzw. Gesang erwarten würde. Die Figur des Ivan dreht sich permanent um 180 Grad. So wird die Folie dafür geschaffen, dass der Zar im vierten Akt dem Wahnsinn verfällt, sich aber auch wieder daraus befreien kann.

JT: Diese plötzliche Wandlung kann in gewisser Weise auch als ein Spiegel der unterschiedlichen Phasen einer Depression gesehen werden, betrachtet man die historische Figur.

HH: So wie der Komponist das Material nutzt, könnte man das tatsächlich sagen, und das ist sehr modern!


Musik, die überdauert
HH:
Apropos musikalisches Material: „Ivan IV“ kam zwar zu Bizets Lebzeiten nie auf die Bühne, die Musik fand aber in anderen Werken Verwendung – gerade in „La jolie fille de Perth“.

JT: Und auch die Arie „Ouvre ton cœur“ des jungen Bulgaren, ein Sklave Ivans, hat Ähnlichkeiten mit Carmens „Séguedille“.

HH: Ja, das Stück ist sogar Teil eines kleinen Zyklus’ von Stücken („Seize Mélodies“,1886) geworden, die alle im weitesten Sinne exotischen Charakter haben. Es wird oft bei Liederabenden im französischen Raum gesungen und „Bolero“ genannt.

Bühnenbild und Kostüme
JT: Du bist ja nicht nur der Regisseur, sondern gestaltest auch, wie meistens, Bühne und Kostüme. Wie bist du an die Gestaltung der Ausstattung herangegangen?

HH: Wenn du dich mit einem historischen Stoff auseinandersetzt, beschäftigst du dich mit dem Zeitgeist und den Voraussetzungen, unter denen das Werk entstanden ist. In diesem Fall gibt es noch dazu eine konkrete historische Person und Situation. In Bizets Oper ist dies aber erstens alles andere als historisch korrekt, und zweitens können die Kunstformen Oper und Schauspiel keinen dokumentarischen Charakter haben. Es wäre nicht legitim, pinselgenau Kostüme und Lebensformen der unterschiedlichen Volksgruppen der Tscherkess:innen oder des Zarenhauses nachzuzeichnen. Deswegen versuche ich, eher Querverbindungen zu ikonographischen Darstellungen zu schaffen. Es wäre ebenfalls eine Reduktion und Banalisierung, wenn man sagen würde, ich setze Ivan eine blonde Perücke auf und behaupte, das ist jetzt Putin. Bei seiner Frau wüsste ich es schon gar nicht mehr. Das wird weder den Ukrainer:innen, den Russ:innen, der Schrecklichkeit dieses Krieges, noch den Schrecklichkeiten des Zaren gerecht. So etwas ist nur sehr bedingt darstellbar. Es muss den Charakter eines Gleichnisses behalten, und das tut es auch.


Julia Terwald, Musiktheaterdramaturgin

 

Vorstellungstermine und Tickets


„Ivan IV“
Grand opéra in fünf Akten von Georges Bizet, deutsche szenische Erstaufführung der fünfaktigen Fassung
Musikalische Leitung: Philippe Bach · Regie, Bhne, Kostüme: Hinrich Horstkotte · Chor: Manuel Bethe · Dramaturgie: Julia Terwald · Mit: Mercedes Arcuri/Monika Reinhard, Sara-Maria Saalmann, Marianne Schechtel/Tamta Tarielashvili; Paul Gay/ Selcuk Hakan Tiraşoğlu; Mikko Järviluoto, Andreas Kalmbach, Alex Kim, Stan Meus, Shin Taniguchi, Tomasz Wija · Chor und Statisterie des Staatstheaters Meiningen · Meininger Hofkapelle
Premieren: FR, 24.02., 19.30 Uhr + SO, 26.02., 18.00 Uhr
weitere Termine: 04.03., 11.03., 27.04., 28.05., 23.06., 28.06.2023 – Großes Haus
Matinee: SO, 12.02.2023, 11.15 Uhr – Foyer Großes Haus, Eintritt frei