Ein echtes Fundus-Märchen Zweite Chance für eine erste Wahl: Dickens’ „Weihnachtsgeschichte“ wird nachhaltig inszeniert

Bunt ist im Meininger Weihnachtsmärchen in diesem Jahr nicht nur der Tannenbaum: Bühnenbild und Kostüme werden unter der Regie von Gabriela Gillert fast ausschließlich aus bereits abgespielten Produktionen genommen und in eine neue Form gewandelt. Außergewöhnlich am Theater – noch.
Die Weihnachtszeit. Während draußen viele Leute in die Läden stürmen, um neue Handys, Pantoffeln und Labubu-Puppen zu kaufen, verfolgt das Meininger Weihnachtsmärchen einen anderen Gedanken: Ein Weihnachtsstück entsteht nicht aus neuen Materialien, sondern aus den Schätzen, die ein Theater bereits besitzt – eine echte „Zweite Chance für die Erste Wahl.“ Für Dickens’ Klassiker „Die Weihnachtsgeschichte“ wird alles, was zu einer Inszenierung gehört – Bühnenbild, Kostüme, Maskenteile und Requisiten – in Möbellagern, Kostümfundus, Schränken und sogar in längst vergessenen Schubladen aufgestöbert. Durch kluge Kombination und kreative Weiterentwicklung entsteht daraus eine ganz eigene ästhetische Erzählweise. Das Stichwort heißt: Upcycling!
Anders als sein bekannter Cousin, das Recycling, werden beim Upcycling nämlich bereits benutzte Materialien nicht einfach nur ein weiteres Mal benutzt. Sie werden auf eine solche Weise umgestaltet und neu in Szene gesetzt, dass jede Mehrverwendung ihnen zugleich auch einen Mehrwert mitgibt. Aus Alt mach Vintage. Ein bisschen Zauberei gehört schließlich zu jedem Theaterstück dazu. Vielleicht machen wir in diesem Jahr sogar aus Eisen Gold? Oder zumindest eine mit Blattgold überzogene Eisenlegierung. Wer weiß.
Jedenfalls lassen sich die meisten der fantastischen Bilder, die Regisseurin Gabriela Gillert und Ausstatter Helge Ullmann sich vorgestellt haben, mit vorhandenen Theatermitteln realisieren. Denn alten Stücken, alten Stoffen neues Leben einzuhauchen, ist schließlich das tägliche Handwerk des Theaters. „Mit einem so gut ausgestatteten Fundus wie in Meiningen“, weiß Ullmann, „gibt es genügend Spielraum für Anpassungen. Selbst nach Jahren am Theater bin ich oft noch überrascht, was man im Fundus alles entdecken kann.“
So werden aus den „Räubern“ nicht nur einzelne Wände, sondern das gesamte funktionale Wandsystem genommen, aus Tschechows „Der Kirschgarten“ die prominente Tür; der Wolkenvorhang aus „Hänsel und Gretel“ schafft auch im industriellen England eine zauberhafte Atmosphäre. Die zahlreichen Kostüme aus der „Weihnachtsgeschichte“ werden nahezu ausschließlich aus dem Bestand bezogen und weiterentwickelt. Und auch Perücken und Nasen werden hier zu neuen Gesichtern.
Damit das gelingen kann, bedarf es einer genauen und frühzeitigen Planung, in die alle Gewerke miteinbezogen werden müssen. Aber das Ergebnis wird sich sehen lassen können. Pakettransporte und lange Lieferketten werden vermieden und weniger Abgase verpesten die Luft. Und das Theater geht smart und effizient mit seinen Ressourcen um. Win-Win für alle!
Ähnlich sieht es auch das international anerkannte Theatre Green Book, eine Art Öko-Leitfaden fürs Theater, der Nachhaltigkeit systematisch verankern möchte. Die Vorgabe lautet, dass mindestens 50 Prozent der Materialien eines Stückes bereits auf der Bühne verwendet wurden. Nach dem Ende der Produktion sollen schon 65 Prozent eine weitere Verwendung finden, durch Lagerung, Weitergabe oder Umbau.
Ob an Weihnachten oder im übrigen Jahr: Nachhaltigkeit ist nicht nur eine stille Botschaft der Inszenierung, sondern vor allem auch ein gestalterisches Prinzip. Gerade in einer Zeit, in der der Verbrauch Hochkonjunktur hat, setzt das Theater einen Kontrapunkt. Wertvoll ist nicht allein, was neu ist. Sondern was sich mit Kreativität, Virtuosität und Achtsamkeit von seiner besten Seite präsentiert.
Henning Bakker, Dramaturg Junges Staatstheater
„Eine Weihnachtsgeschichte“
von Charles Dickens
Fassung von Gabriela Gillert
Weihnachtsmärchen ab 6 Jahren
Regie: Gabriela Gillert • Bühne, Kostüme: Helge Ullmann • Dramaturgie: Henning Bakker
mit: Nélida Martinez, Alonja Weigert; Vivian Frey, David Gerlach, Leonard Pfeiffer, Max Rehberg, Johannes Schönberg
Premiere: SA, 08.11.2025, 17.00 Uhr – Großes Haus
Familienvorstellungen: 09.11., 06.12., 21.12., 26.12.2025, 18.01.2026
Vormittagsvorstellungen: vom 13.11.2025 bis zum 19.01.2026