Jazz und Barock in einem Thriller: Hindemiths Oper „Cardillac“
Erleben Sie die Meininger Erstaufführung von Paul Hindemiths Künstlerdrama „Cardillac“
Paul Hindemiths Oper „Cardillac“ ist ein packender Krimi und zugleich ein Künstlerdrama über einen besessenen Goldschmied, der sich seine einzigartigen Schöpfungen zurückholt und zu diesem Zweck sogar vor Mord nicht zurückschreckt. Auf Grundlage der Novelle „Das Fräulein von Scuderi“ von E.T.A. Hoffmann – eine der ersten Kriminalgeschichten der Weltliteratur – schuf Hindemith 1926 die Oper „Cardillac“ und machte sie zu einem Meilenstein in der Entwicklung des Musiktheaters. Exakt 100 Jahre nach der Uraufführung inszeniert Giulia Giammona erstmals in Meiningen diesen um Leidenschaft, Selbstkontrolle und Autismus kreisenden Thriller. GMD Killian Farrell dirigiert die Musik voller rhythmischer Kraft mit neobarocken und jazzigen Anklängen.
Ein Raubmörder in Paris
Die Handlung spielt in Paris. Die Stadt ist in Aufruhr, weil ein Serienmörder sein Unwesen treibt. Er lauert Kunden, die kurz zuvor beim berühmten Goldschmied Cardillac Juwelen erworben haben, des Nachts auf, raubt sie aus und bringt diese um. Keiner ahnt, dass der Mörder und Schmuck-Räuber Cardillac selbst ist, da er sich nicht von den von ihm geschaffenen Stücken trennen kann. Die Politik setzt eine Sonderkommision zur Ergreifung des Täters ein. Trotz der Gefahr forderte eine attraktive Dame ihren Kavalier auf, zum Lohn für eine Liebesnacht ihr einen kostbaren Schatz aus Cardillacs Werkstatt zu besorgen. Mit Schaudern erfüllt der verliebte Kavalier den Wunsch der Frau, wird aber sogleich das nächste Opfer.
Während Cardillac fieberhaft-besessen – und ohne Schuldgefühle – an neuen Kunstwerken arbeitet, wird seine Tochter von einem Offizier heftig umworben. Der Offizier misstraut dem Goldschmied, weil dieser ihm ohne Umschweife seine Tochter gibt, die Herausgabe eines Schmuckstücks aber um jeden Preis verhindern will. Ein Mordanschlag auf den Offizier missglückt, doch es kommt zu keiner Verhaftung Cardillacs. Stattdessen wird ein Goldhändler, der als Einziger den Besessenen schon länger in Verdacht hatte, als Schuldiger ausgemacht. Schließlich aber gibt sich Cardillac als Mörder zu erkennen. Das Volk, das den Künstler noch kurz zuvor ehrerbietig gefeiert hat, richtet über sein Schicksal.
Die schaurige und romantische Vorlage von E.T.A. Hoffmann, die 1819 entstand, änderten Hindemith und sein Librettist Ferdinand Lion entscheidend. Während das Fräulein von Scuderi in der Oper gar nicht vorkommt, rückt Cardillac ganz ins Zentrum. Hindemith faszinierten die Psychopathologie der Künstlerseele und die Konflikte zwischen der gesellschaftlichen „Normalität“ und dem Anderssein des Einzelnen.
Saxofon-Klänge und Bauhaus-Barock
Musikalisch ist die Oper ein Kind seiner Zeit. 1926 in Dresden uraufgeführt, gehört „Cardillac“ zur Epoche der Neuen Sachlichkeit, dem deutschen Äquivalent zum Neoklassizismus. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges wurden alle breitangelegten atmosphärischen Kompositionen, sei es im Sinne Wagners, des Impressionismus oder des Expressionismus, als wirklichkeitsfremd abgelehnt und durch eine nüchtern-knappe Formensprache mit klaren melodischen Linien, Polyphonie und rhythmischer Kraft ersetzt. Die Intensität des Stoffes sorgt aber gerade in ihrer klaren und realistischen Direktheit dafür, dass die Oper starke Emotionen hervorruft, die direkt ins Herz gehen und ihre Wirkung bis heute nicht verfehlen.
Die knappe neusachliche Form – die Oper hat eine Dauer von lediglich 90 Minuten – greift bewusst das politisch-soziale Milieu der 1920er-Jahre auf. Elemente des Jazz sind durch den, für die Oper ungewöhnlichen, Einsatz eines Saxofons hörbar; in Verbindung mit Horn, Trompete und Tuba erinnern einzelne Phrasen an Kapellen der damaligen Unterhaltungsmusik, allerdings werden sie von Hindemith auf ein höheres Level gehoben. In anderen Momenten nimmt Hindemith direkte Anleihen an Fugen- und Passacaglia-Formen der Barockzeit. Insgesamt lässt sich Hindemiths Stil in dieser Zeit als Bauhaus-Barock definieren: Ein Werk, das exemplarisch einen anderen Blick erlaubt in die widersprüchliche Zeit der Weimarer Republik, in der Mechanisierung, Versachlichung, ästhetische Abrüstung und Funktionalität durch Bewegungen wie die Kunstschule Bauhaus parallel wirkten zu den zeitgleich erstarkenden dunklen Strömungen des Fanatismus, die in den Nationalsozialismus mündeten.
Die Urfassung begeistert von der Weimarer Republik bis heute
Diesen Widerspruch nimmt Hindemith intuitiv auf, indem er die Erzählung „Das Fräulein von Scuderi“ mit den Mitteln der Neuen Sachlichkeit kurzschließt. Wie stark die gefährdete und tief gespaltene Gesellschaft der Weimarer Republik die Entstehung der Oper beeinflusste, zeigt auch die große Bedeutung des Chores, der neben Cardillac zur Hauptfigur und zum Gegenspieler erhoben wird. Der Chor kommentiert alles, treibt den Wahnsinn der Handlung voran. Die Menge sucht nach dem Mörder, schreckt vor Brutalitäten nicht zurück und lässt sich aufhetzen, ein Phänomen, das heute wieder erschreckende Aktualität erfährt.
Die Premiere 1926 in Dresden und viele Neuinszenierungen bis heute fanden trotz radikalem Zuschnitt der Oper begeisterte Aufnahme – allerdings nur in der unerhört kompakten, heiß-kalt schillernden Urfassung. Eine geglättete Neubearbeitung der Oper durch Hindemith nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich nicht durchgesetzt. In Meiningen kam „Cardillac“ noch nie zur szenischen Aufführung. Dieses wird jetzt exakt 100 Jahre nach der Uraufführung durch die junge deutsch-italienische Regisseurin Giulia Giammona, die bereits in Berlin, Mailand und bei den Salzburger Festspielen mit Projekten für Furore sorgte, nachgeholt.
Dr. Matthias Heilmann, Musiktheaterdramaturg
„Cardillac“
Oper in drei Akten von Paul Hindemith
Text von Ferdinand Lion nach E.T.A. Hoffmann
In deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln
Musikalische Leitung: GMD Killian Farrell •Regie: Giulia Giammona • Bühne, Kostüme: Susanne Maier-Staufen • Choreografie: Alessandra Bareggi • Chor: Roman David Rothenaicher •Dramaturgie: Matthias Heilmann
mit: Lena Kutzner, Tamta Tarielashvili; Isaac Lee, Roman Payer, Shin Taniguchi, Selcuk Hakan Tiraşoğlu, Tomasz Wija | Chor und Statisterie des Staatstheaters Meiningen | Es spielt die Meininger Hofkapelle.
Premiere: FR, 13.02.2026, 19.30 Uhr – Großes Haus
weitere Termine: 15.02., 08.03., 17.04., 30.04., 23.05., 05.06.2026
Einführungen je 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn im Foyer
Matinee: SO, 01.02.2026, 11.15 Uhr – Foyer Großes Haus, Eintritt frei