Uraufführung
Auftragswerk von Björn SC Deigner
Die Frage nach widerfahrenem Unrecht und der entsprechenden Wiedergutmachung durchzieht Kleists „Michael Kohlhaas“. 1810 erschienen, wurde dieser Aspekt des Textes zum Steigbügelhalter unterschiedlichster Bewegungen, die sich den Kohlhaas zu eigen machten: seien es die Nationalsozialisten, die Arbeiterbewegung oder gar die 68er. Wie und mit welchen Mitteln reagiert man auf Unrecht? Wo beginnt Gerechtigkeit und ab wann wird sie zur Selbstjustiz? Die Kleist’schen Fragen scheinen aktueller denn je, denkt man nur an die gesellschaftlichen Verwerfungen während des pandemischen Geschehens, das von vielen Menschen als unrecht erlebt wurde und wiederholt die Frage aufwarf, ob der Staat im Recht ist. Die Skepsis unserer Demokratie gegenüber durchzieht viele Bevölkerungsschichten, und ein Riss geht durch Familien und Häuser und lässt auch das Theater nicht aus.
Für seine neue Auftragsarbeit verlegt Björn SC Deigner den Text Kleists in das Theater selbst: Auf der Probe eines Liebhabertheaters wird aus der harmlosen Erörterung der Textfassung des „Kohlhaas“ eine unversöhnliche Diskussion. Die Frage, wo Zensur beginnt, wo Diskurs aufhört und wie man sich sprachlich überhaupt noch begegnen kann, wenn man unterschiedlicher Auffassung ist, bringt die Kleist’sche Frage nach Recht und Unrecht von der Bühne ins Ensemble.
Hinweis: Bei dieser Produktion kommen Stroboskop-Effekte zum Einsatz. Bei bestimmten Blitzfrequenzen können unter Umständen epileptische Anfälle ausgelöst werden. Der Effekt findet auf der Szenenfläche statt und das Publikum befindet sich dabei nicht im ausgeleuchteten Bereich.
Regie: Cornelius Benedikt Edlefsen
Bühne, Kostüme: Jenny Schleif
Dramaturgie: Katja Stoppa
Karl: Thomas Büchel a.G.
Edda: Anja Lenßen
Clara: Pauline Gloger
Chris: Jan Wenglarz
„Mit Kleists Text selbst aber gelingen vor allem Pauline Gloger (Clara) und Jan Wenglarz (Chris) starke Momente: Sie zum Beispiel als Kohlhaasens Lisbeth, er als dessen Knecht, der die Nachricht von Lisbeths Tod überbringen muss, […].Gloger beglaubigt selbst, was ihrer Figur zugeschrieben wird: auf allerbesten Wegen zur großen Schauspielerin zu sein, mit einem ganz eigenen, immer sofort fesselnden Ton und unmittelbar wirkungsmächtiger Energie.“
Michael Helbing, Theater der Zeit, 03.06.2024
„Den Assoziationen des Autors wird ein leidenschaftlich spielendes Ensemble zugesellt, mit dem scheidenden Dramaturgen Cornelius Benedikt Edlefsen ein aufmerksamer Regisseur, eine manuell zu bedienende kleine Drehbühne, eine schräge Rampe, ein paar verdorrte Bäumchen, und zwei, drei Accessoires (Ausstattung: Jenny Schleif). Das sollte genügen, um dem Spektakel in der Mehrzweckhalle eines Provinznests Raum zu geben, in das es das vierköpfige Privattheater „Die freche Distel“ verschlagen hat, in der immerwährenden Hoffnung, ein Publikum möge erscheinen.“
Siggi Seuß. MainPost, 01.06.2024
„Der Blick hinter die Kulissen der kleinen Traumfabrik Theater offenbart lächerliche Eitelkeiten, Spleans und Zerwürfnisse. Dieser Gefahr unterliegt SC Deigner nicht. Auch wenn er den einen oder anderen entspannenden Lacher mitnimmt, nimmt er seine Figuren doch sehr ernst, zeigt uns ihre Sehnsüchte und Hoffnungen, ihre politischen Wünsche und verlorenen Illusionen. Er lässt sie hart miteinander streiten, lässt sie sanft aufeinander zugehen und sich umgarnen. Alle vier dürfen sich im knapp zweistündigen Theaterabend entwickeln.“
Volker Tzschucke, Die Deutsche Bühne, 26.05.2024
„Mit Thomas Büchel (Karl), Anja Lenßen (Edda), Pauline Gloger (Clara) und Jan Wenglarz (Chris) ein überzeugendes Quartett an Schauspielern, die ihren Figuren in euphorischen wie in leisen, in streitbaren wie in zärtlichen Momenten Glaubwürdigkeit zu geben imstande sind. Eine pointierte Regiearbeit von Cornelius Benedikt Edlefsen. Eine zweite, rahmende Erzählebene von großer poetischer Kraft, die auf Hieronymus Boschs Gemälden vom Garten Eden und vom Garten der Lüste referieren.“
Volker Tzschucke, Die Deutsche Bühne, 26.05.2024
„Deigner aktualisiert oder überschreibt nicht die Kleistsche Novelle, sondern baut sich eine Strichfassung, die dann um mehrere Ebenen angereichert wird. Oder anders: Er übergibt den Kleiststoff in die Hände der Theatergruppe Die freche Distel, die als Mini-Unternehmen mit vier Leuten die Stadthallen dieser Republik bespielt.“
„Regisseur Cornelius Benedikt Edlefsen und Bühnen- und Kostümbildnerin Jenny Schleif haben sich für eine Glitzerversion des armen Theaters entschieden. […] Die Regie verlässt sich auf die Schauspielenden, arbeitet über die Personen die Inhalte heraus. Genaue Personenführung trifft auf große Spielfreude, mit der Schauspieler, die Schauspieler spielen, schauspielen.“
„Die geplatzten und dennoch geträumten Träume puzzeln sich in liebenswerten Details zu einem Bild der Gegenwart zusammen, das zur Abwechslung so etwas wie Hoffnung verspricht. Das ist vielleicht das Kunststück dieses Abends zum Thema Rache, der auf Moralisieren ebenso verzichtet wie auf eine allzu einfache Lösung.“
Torben Ibs, Theater heute, Ausgabe Juli-August 2024